Texte verschiedener Autoren

Die alten und neuen Texte, die hier im Laufe der Zeit vorhestellt werden, dienen der Anregung zu eigenen Forschungsreisen im Ozean der buddhistischen Unterweisungen und Theorien sowie der Diskussion kontroverser Themen.
Startschuss des Textarchivs ist am 1. Mai 2022. Was liegt näher als mit Gedanken zu Verbindungslinien zwischen Buddhismus und kritischer Gesellschaftstheorie zu beginnen.

Revisiting Buddhist Anarchism

Wiederbesuch beim buddhistischen Anarchismus

Von Kenji Liu (5. Juni 2013). Erschienen in: https://buddhistpeacefellowship.org/revisiting-buddhist-anarchism/ (eigene Übersetzung)

In letzter Zeit habe ich mich wieder mit dem buddhistischen Anarchismus beschäftigt, der Strömung des sozial engagierten Buddhismus, mit der einige der Gründer der Buddhist Peace Fellowship in irgendeiner Form verbunden waren. Wie jede Religion können die Grundsätze und Lehren des Buddhismus auf viele Arten interpretiert werden, auch in Richtung Antistaat und Antikapitalismus. In anderen Beiträgen habe ich angedeutet, dass einige Interpretationen des Buddhismus in Richtung einer Stärkung des Staates tendieren, sei es explizit oder implizit.

In seinem 1969 erschienenen Essay „Buddhistischer Anarchismus“ beschreibt Gary Snyder verschiedene Schlüsselaspekte des Buddhismus als „staatserschütternde Implikationen“. Insbesondere die Praxis der Meditation „löscht Berge von Schrott aus, der von den Massenmedien und den Supermarkt-Universitäten in den Verstand gepumpt wird“. Die Betonung des Nicht-Verletzens steht implizit im Gegensatz zu Ideologien, die Gewalt und Unterdrückung rechtfertigen, an denen der Staat und der Kapitalismus teilhaben und auf die sie sich stützen. Die Praxis ethischen Verhaltens (sila) ermutigt zu verantwortungsbewusstem Handeln gegenüber allen Lebewesen, was für Snyder eine internationalistische, klassenlose Welt impliziert, in der – um eine Formulierung aus Animal Farm zu entlehnen – niemand gleicher ist als der andere.

Snyder befürwortet „zivilen Ungehorsam, unverblümte Kritik, Protest, Pazifismus, freiwillige Armut und sogar sanfte Gewalt“, um den Weg zu einer solchen Welt zu unterstützen, „indem er das größtmögliche Spektrum an nicht-schädigendem individuellem Verhalten bejaht.“ Ich denke dabei an Occupy Wall Street – dessen Kultur, Sprache, Taktik und direkte Demokratie, so unvollkommen sie auch sein mögen, einen unauslöschlichen Eindruck im Protestbewusstsein hinterlassen haben, selbst wenn sich Einzelne in lokale Bemühungen zerstreut haben. Vielleicht gibt es eine wachsende Tendenz, die den Kapitalismus und die Staatsmacht als große Hindernisse für die menschliche Freiheit begreift – eine Freiheit, die Individualität, Unterschiede und Verantwortung für die Gemeinschaft bekräftigt, in der die Macht zwischen uns und nicht von oben zirkuliert.

Zurzeit lese ich wieder Ursula K. LeGuins Buch The Dispossessed (1974) (auf deutsch als „Freie Geister“ in neuer Übersetzung von Karen Nölle erhältlich. Anm. d. Ü.), einen ausgezeichneten halb-utopischen Science-Fiction-Roman, der mit den Nebula-, Hugo- und Locus Awards ausgezeichnet wurde. Er spielt auf zwei Planeten, Urras und seinem Mond Anarres. Urras wird von einem kapitalistischen, patriarchalischen Land beherrscht und sein Rivale ist ein autoritäres, kommunistisches Land, das Stellvertreterkriege in einem weniger entwickelten Land führt. Der Wüstenmond Anarres wird seit über einem Jahrhundert von Anarchosyndikalisten besiedelt, die Urras als Revolutionäre verlassen haben.

LeGuin wirft nicht nur einen kritischen Blick auf die repressiven nationalstaatlichen Strukturen sowohl des Kapitalismus als auch des Kommunismus, sondern auch auf die langfristigen Schwächen einer nicht-staatlichen, revolutionären anarchistischen Gesellschaft. In der anarchistischen Gesellschaft, die ohne eine zentrale Regierung, Gesetze, Eigentum, Gefängnisse, Polizei oder Armeen auskommt, beginnt die Macht in einem Netz aus passiv-aggressiver Beeinflussung, etablierten Bräuchen und dem Gruppendruck der Massenmeinung zu gerinnen. All dies hat gewaltsame Auswirkungen auf diejenigen, die die akzeptierten Grenzen überschreiten.

Buddhistische Institutionen können und haben zuweilen auf ähnliche Weise gewirkt, ob sie nun an militaristischen Nationalismus, patriarchalische Hierarchie oder rassistische, bürgerliche kulturelle Gepflogenheiten gebunden sind. Aber der Buddha lehnte einen Großteil seiner zeitgenössischen sozialen Struktur ab. Ich persönlich neige zu Snyders Interpretation, wonach der Buddhismus eine die Nation erschütternde Wirkung hat. Für mich ist er eine Praxis der Entkolonialisierung und des radikalen Mitgefühls. Die Formulierung „alle Wesen“ bedeutet wirklich alle, ohne Ausnahme, schwach oder stark, und lässt keinen aus. Und das bedeutet, dass wir alle unwiederbringlich, erschreckend und wunderbar füreinander verantwortlich sind. Darauf können wir eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft, eine Welt aufbauen, und alles, was dem im Wege steht, ist, offen gesagt, unnötig.

Kenji Liu

Kenji Liu praktiziert seit 1998 in burmesischer und thailändischer Tradition (Theravada). Als Pädagoge, Kulturarbeiter und Schriftsteller hat er an öffentlichen und privaten Hochschulen ethnische Studien, asiatisch-amerikanische Studien und Theorie des sozialen Wandels gelehrt. Darüber hinaus hat er landesweit Workshops zur Analyse von Unterdrückung und zur Organisationsentwicklung geleitet. Er wurde für den Pushcart Prize nominiert und war Finalist für den Poets & Writers 2013 California Writers Exchange Award. Seine Gedichte und Essays sind in zahlreichen Literaturzeitschriften erschienen.

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