Gary Snyder

Der Buddhismus und die kommende Revolution (1969)



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Foto: Larry Miller/flickr – gemeinfrei

Vorläufige Übersetzung

Der Buddhismus geht davon aus, dass sich das Universum und alle Lebewesen darin von Natur aus in einem Zustand vollkommener Weisheit, Liebe und Mitgefühl befinden; sie handeln in natürlicher Reaktion und gegenseitiger Abhängigkeit. Die persönliche Verwirklichung dieses Zustandes, der von Anfang an gegeben war, kann nicht für und durch ein „Selbst“ erfolgen, da er nicht vollständig verwirklicht werden kann, wenn man das Selbst nicht aufgegeben hat.
Nach buddhistischer Auffassung ist das, was die mühelose Manifestation dieses Zustandes behindert, die Unwissenheit, die sich in Angst und unnötigem Verlangen äußert. Historisch gesehen haben buddhistische Philosophen es versäumt, das Ausmaß zu analysieren, in dem Unwissenheit und Leiden durch soziale Faktoren verursacht oder gefördert werden, da sie Angst und Verlangen als gegebene Tatsachen des menschlichen Daseins betrachteten. Folglich liegt das Hauptaugenmerk der buddhistischen Philosophie auf Erkenntnistheorie und „Psychologie“, ohne dass historischen oder soziologischen Problemen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Obwohl der Mahayana-Buddhismus eine großartige Vision der universellen Erlösung hat, bestand die eigentliche Errungenschaft des Buddhismus in der Entwicklung praktischer Meditationssysteme mit dem Ziel, einige wenige engagierte Menschen von psychologischen Verstrickungen und kulturellen Konditionierungen zu befreien. Der institutionelle Buddhismus war auffallend bereit, die Ungleichheiten und Tyranneien des jeweiligen politischen Systems, unter dem er sich befand, zu akzeptieren oder zu ignorieren. Das kann der Tod für den Buddhismus sein, denn es ist der Tod für jede sinnvolle Funktion des Mitgefühls. Weisheit ohne Mitgefühl fühlt keinen Schmerz.
Niemand kann es sich heute leisten, unschuldig zu sein oder sich in Unwissenheit über das Wesen zeitgenössischer Regierungen, Politik und Gesellschaftsordnungen zu ergehen. Die nationalen Gemeinwesen der modernen Welt erhalten ihre Existenz durch absichtlich geschürte Begierde und Angst: monströse Schutzgelderpressungen. Die „freie Welt“ ist wirtschaftlich abhängig geworden von einem phantastischen System der Stimulierung von Gier, die nicht befriedigt werden kann, von sexuellem Verlangen, das nicht gestillt werden kann, und von Hass, der kein anderes Ventil hat als gegen sich selbst, gegen die Menschen, die man angeblich liebt, oder gegen die revolutionären Bestrebungen von bedauernswerten, verarmten Randgesellschaften wie Kuba oder Vietnam. Die Bedingungen des Kalten Krieges haben alle modernen Gesellschaften – auch die kommunistischen – zu bösartigen Verunstaltern des wahren Potenzials des Menschen gemacht. Sie schaffen Bevölkerungen von „preta“-hungrigen Geistern mit riesigem Appetit und Kehlen, die nicht größer als Nadeln sind. Der Boden, die Wälder und alles tierische Leben werden von diesen krebsartigen Kollektiven aufgefressen; die Luft und das Wasser des Planeten werden von ihnen verunreinigt.
Es liegt weder in der menschlichen Natur noch in den Erfordernissen der menschlichen sozialen Organisation, dass eine Kultur widersprüchlich und repressiv sein und gewalttätige und frustrierte Persönlichkeiten hervorbringen muss. Neuere Erkenntnisse der Anthropologie und Psychologie machen dies immer deutlicher. Man kann es sich selbst beweisen, indem man seine eigene Natur durch Meditation genau betrachtet. Sobald ein Mensch über so viel Glauben und Einsicht verfügt, muss er dazu gebracht werden, sich mit der Notwendigkeit eines radikalen sozialen Wandels durch eine Vielzahl von hoffentlich gewaltfreien Mitteln auseinanderzusetzen.
Die freudige und freiwillige Armut des Buddhismus wird zu einer positiven Kraft. Die traditionelle Harmlosigkeit und die Weigerung, das Leben in irgendeiner Form zu nehmen, hat national erschütternde Implikationen. Die Praxis der Meditation, für die man nur „den Boden unter den Füßen“ braucht, beseitigt Berge von Schrott, der von den Massenmedien und den Supermarkt-Universitäten in den Verstand gepumpt wird. Der Glaube an eine heitere und großzügige Erfüllung natürlicher Liebeswünsche zerstört Ideologien, die blenden, verstümmeln und unterdrücken – und weist den Weg zu einer Art von Gemeinschaft, die „Moralisten“ in Erstaunen versetzen und Armeen von Männern verwandeln würde, die Kämpfer sind, weil sie keine Liebenden sein können.
Die buddhistische Avatamsaka (Kegon)-Philosophie sieht die Welt als ein riesiges, miteinander verbundenes Netzwerk, in dem alle Objekte und Lebewesen notwendig und erleuchtet sind. Von einem Standpunkt aus gesehen sind Regierungen, Kriege oder alles, was wir als „böse“ betrachten, kompromisslos in diesem totalistischen Bereich enthalten. Der Falke, der Sturzflug und der Hase sind eins. Vom „menschlichen“ Standpunkt aus können wir nicht unter diesen Bedingungen leben, solange nicht alle Wesen mit demselben erleuchteten Auge sehen. Der Bodhisattva lebt nach den Maßstäben des Leidenden, und er muss denen, die leiden, wirksam beistehen.
Der Segen des Westens (the mercy of the west) war die soziale Revolution, der Segen des Ostens war die individuelle Einsicht in das grundlegende Selbst bzw. die Leere. Wir brauchen beides. Sie sind beide in den traditionellen drei Aspekten des Dharma-Pfades enthalten: Weisheit (prajna), Meditation (dhyana) und Moral (sila). Weisheit ist intuitives Wissen über den Geist der Liebe und Klarheit, der hinter den vom Ego getriebenen Ängsten und Aggressionen liegt. Meditation bedeutet, in den Geist zu gehen, um dies selbst zu sehen – immer und immer wieder, bis es der Geist wird, in dem man lebt. Moral bedeutet, dies durch persönliches Beispiel und verantwortungsbewusstes Handeln in der Art und Weise, wie man lebt, wieder zum Vorschein zu bringen, letztlich für die wahre Gemeinschaft (Sangha) „aller Wesen“.
Dieser letzte Aspekt bedeutet für mich, dass ich jede kulturelle und wirtschaftliche Revolution unterstütze, die sich eindeutig in Richtung einer freien, internationalen, klassenlosen Welt bewegt. Es bedeutet, Mittel wie zivilen Ungehorsam, unverblümte Kritik, Protest, Pazifismus, freiwillige Armut und sogar sanfte Gewalt anzuwenden, wenn es darum geht, einen ungestümen Hinterwäldler zu bändigen. Es bedeutet, das größtmögliche Spektrum an nicht schädlichem individuellem Verhalten zu bejahen – das Recht des Einzelnen zu verteidigen, Hanf zu rauchen, Peyote zu essen, polygyn, polyandrisch oder homosexuell zu sein. Welten von Verhaltensweisen und Bräuchen, die vom jüdisch-kapitalistisch-christlich-marxistischen Westen lange verboten waren. Es bedeutet, Intelligenz und Lernen zu respektieren, aber nicht als Gier oder Mittel zur persönlichen Macht. Eigenverantwortliches Arbeiten, aber die Bereitschaft, mit einer Gruppe zusammenzuarbeiten. „Die neue Gesellschaft in der Schale der alten bilden“ – der IWW-Slogan von vor fünfzig Jahren (IWW: Industrial Workers of the World, Anm. d. Ü).
Die traditionellen Kulturen sind auf jeden Fall dem Untergang geweiht, und anstatt sich hoffnungslos an ihre guten Seiten zu klammern, sollte man sich daran erinnern, dass alles, was in irgendeiner anderen Kultur ist oder jemals war, aus dem Unbewussten durch Meditation rekonstruiert werden kann. Ich bin sogar der Meinung, dass die kommende Revolution den Kreis schließen und uns in vielerlei Hinsicht mit den kreativsten Aspekten unserer archaischen Vergangenheit verbinden wird. Wenn wir Glück haben, werden wir schließlich zu einer vollständig integrierten Weltkultur mit matrilinearer Abstammung, freier Heirat, kommunistischer Wirtschaft mit Naturkrediten, weniger Industrie, weit weniger Bevölkerung und viel mehr Nationalparks gelangen.

Gary Snyder, geb. am 8. Mai 1930 in San Francisco ist ein angesehener Zen-Buddhist, Lyriker, Essayist, Pulitzerpreisträger, Umweltaktivist und einer der letzten noch lebenden Vertreter der Dichter der Beat-Generation (William Burroughs, Jack Kerouac, Allen Ginsberg und andere). Als Japhy Ryder spielt er in Kerouacs Roman „Die Dharmajäger“ (früherer deutscher Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“) eine wichtige Rolle. Gesellschaftliches und umweltpolitisches Engagement gehören auch für ihn stets zur Dharmapraxis dazu.

Dieser Text erschien erstmalig 1961 unter dem Titel „Buddhist Anarchism“ im Journal for the Protection of All Beings #1 (City Lights, 1961) und nochmals 1969 in Earth House Hold (New Directions) in einer leicht veränderten Fassung. Das englische Original findet sich beispielsweise hier.
Als Diskussionsgrundlage für die Frage, inwiefern Dharma und Marktwirtschaft/Kapitalismus vereinbar sind oder im Gegensatz zueinander stehen, ist der Essay sicherlich gut geeignet.

Eine kurze Gratulation Gary Snyders zu seinem 92. Geburtstag und sein Text „Atomare Dämmerung“ finden sich unter der Rubrik „Buddha hier und da„.